Mit Courage und Tatkraft

Mit Courage und Tatkraft zur Rettung Assisis

von André Cirino OFM, Bernadette und Sepp Raischl, Januar 2008

Die Erinnerung an Dr. Valentin Müller ist bis heute noch sehr lebendig in der Stadt der Heiligen Franziskus und Chiara von Assisi.

Jedes Jahr versammeln sich die Honoratioren der Stadt am Todestag von Dr. Valentin Müller, dem 31. Juli, zu einem Gedenkgottesdienst. Sie gedenken in Dankbarkeit. Die Erinnerung ist international lebendig. Erst im September 2005 wurde Valentin Müller posthum von der franziskanischen Universität St. Bonaventura in New York ausgezeichnet. Die weltweite Franziskanische Bewegung blickt mit Dankbarkeit auf den Eichstätter Arzt, der als Retter und Bewahrer der Stadt und Bürger von Assisi in die Geschichte einging.

Wenn man nach Assisi hochfährt, passiert man eine Gedenktafel. Eine Straße ist nach ihm benannt—ebenso wie Müllers Geburtsort Zeilitzheim.

1950 hatte die Stadt Assisi Valentin Müller mitsamt seiner Familie als Helden empfangen und geehrt. Es war seine einzige Rückkehr nach Assisi nach dem Krieg.

1982 besuchte eine Abordnung der Stadt Assisi mit Domdekan Don Aldo Brunacci und dem Bürgermeister das Grab des Eichstätter Arztes. Auf einer Friedenswallfahrt zum 800. Geburtsjahr des hl. Franziskus wollten sie Müller und seine Verdienste ehren. Als vor 4 Jahren Dr. Robert Müller, der 2005 verstorbene Sohn Valentin Müllers, Assisi zum letzten Mal besuchte, sprachen ihn einige an, weil sie in ihm den Sohn des „colonello“ erkannten. Und sie erzählten. Dr. Irmgard Heinemann, Gaimersheim, seine Tochter beschreibt in ihrem Tagebuch von 1950 einige Geschichten:

„Eine Frau kam auf mich zu, glücklich und sehr bewegt. Sie erzählte von ihrer großen Angst während des Krieges. Doch als der Oberst die Stadt betreten hatte, verließ sie die Angst. Die Bewohner behaupten, es wäre ihm zu verdanken, dass die heiligen Stätten, die mittelalterlichen Mauern, die Kunstschätze ebenso wie die Menschen, unbeschadet blieben. Die Leute sagten zu Kriegszeiten: Wir haben drei Beschützer: den  lieben Gott, den hl. Franz und Oberst Müller!“

Viele verzweifelte Menschen wandten sich direkt an den Oberstarzt. Jeder kannte seine Telefonnummer: 210. Valentin Müller versuchte jedwede Übergriffe der DeutschenSoldaten auf die Bevölkerung zu verhindern und dort, wo es ihm nicht gelungen war, setzte er sich persönlich für Schadensersatz ein. Zwei Deutsche Hauptmänner hatten zwei Taxis beschlagnahmt und vorgegeben, es ginge um einen Notfall. Müller setzte sich selbst auf ein Motorrad, verfolgte die beiden bis nach Perugia und veranlasste sie, die gestohlenen Fahrzeuge zurückzugeben. Ein andermal begannen Deutsche Soldaten Fahrräder zu beschlagnahmen und waren dabei, sie auf einen Lastwagen zu verladen. Colonello Müller stoppte sie.

Eines Nachts half Müller einer Frau und ihren zwei Kindern, die von betrunkenen Soldaten belästigt worden waren. Einer jungen Frau, deren Mann als italienischer Soldat in einem Deutschen Konzentrationslager gefangen gehalten wurde, ermöglichte er es, Verbindung aufzunehmen. Er steckte ihren Brief unter größtem persönlichen Risiko in einen amtlichen Umschlag seines Büros. Sich selbst gab er als Absender an. Die große Achtung der Bevölkerung drückte sich auch in der Erklärung der Partisanen in der Gegend von Assisi aus: „Dem colonello Müller soll kein Haar gekrümmt werden!“Auf dem Grabstein Müllers im Eichstätter Friedhof ist die Silhouette der Basilika San Francesco und des Sacro Convento in Assisi zu sehen. Darunter steht: in serviendo consumor—ich setze mein Leben ein im Dienst für andere!

Zunächst möchte ich Ihnen einen Überblick über das Leben von Dr. Valentin Müllergeben, bevor ich Ihnen bisher nicht veröffentlichte Zeugnisse, vor allem Briefe aus der Kriegszeit, vortrage, die einen sehr persönlichen Blick auf sein Wesen, seine Werte und Einstellungen zu lassen. Valentin Müller wurde 1891 im unterfränkischen Zeilitzheim geboren. Er war einer von zwei Söhnen des örtlichen Zimmermanns und wurde katholisch getauft. Als er 13 Jahre alt wurde, ermunterte ihn ein Onkel, der selbst Priester war, das Kilianeum, das bischöfliche Knabenseminar in Würzburg, zu besuchen. 1911 machte er dort schließlich 20jährig sein Abitur. Wie das ja üblich war sollten die Jungen, die dieses Seminarbesuchen, sich später zum Priester weihen lassen. Valentin hatte aber etwas anderes vor: er wollte Chirurg werden: Also begann er unmittelbar nach dem Abitur das Medizinstudium.

Doch dann kam der Erste Weltkrieg. Als fast fertiger Arzt wurde er eingezogen und rettete viele Verwundete an der Front. Für seinen Einsatz erhielt er später die silberne Tapferkeitsmedaille. Am Kriegsende nahmen ihn die Briten gefangen, jedoch gelang es ihm mit Hilfe eines Tricks freizukommen. Lächelnd erzählte er immer wieder: „Ich nahm Medikamente, die beständig hohes Fieber bewirkten. Die Briten dachten deshalb, ich hätte mich mit ansteckender Tuberkulose infiziert und schickten mich nach Hause. “Erst nach seiner Rückkehr konnte er sein Medizinstudium vollständig abschließen. Er wurde allerdings nicht Chirurg, sondern eröffnete 1919 eine eigene Praxis für Allgemeinmedizin—es war nur ein kleiner Raum, in dem er arbeitete und lebte. Das war in Emsing, bei Titting (in Mittelfranken).

Zwei Jahre später zog er nach Titting und übernahm dort ein kleines Krankenhaus. Er stiftete für die Krankenhauskapelle einen Altar. “In Titting gab es ein kleines Krankenhaus mit vielleicht 30 Betten, blitzsauber, mit Geranien an den Fenstern, fleißigen kath. Schwester und sogar einem Operationssaal, den Dr. Müller mit eigenen Mitteln vervollständigte.“ (Trudl Schneider, Tochter eines befreundeten Chirurgen aus Weißenburg)

Im Jahr 1922 heiratete er Maria Hofer, die Tochter eines Kaufmanns, eine schöne, freundliche und ruhige Frau, die eine gute Ergänzung zu seinem Temperament war. Nicht selten musste sie ihn etwas bremsen. Zusammen hatten sie zwei Kinder, Sohn Robert und Tochter Irmgard, die beide ebenfalls Ärzte wurden. Aus dieser Zeit erzählte Trudl Schneider: „Durch Zufall lernte Dr. Müller meinen Vater kennen, der Chirurg war. Dr. Müller bat ihn oft zwei- bis dreimal in der Woche, nach Titting zu kommen, um abends nach der Sprechstunde mit ihm einige Patienten zu operieren. `Hier Müller, Herr Kollege, ich habe heute einen dringenden Fall. Kommen Sie sobald wie möglich. Danach habe ich noch einige leichtere Fälle. Leider ist der eine Patient ein armer Bauer, also keine Rechnung! Das Krankenhaus bezahle ich. Bringen Sie ihre Frau mit! Wiedersehen.´ … Oft dauerte so ein Operationsabend 3 bis 4 Stunden. Dr. Müller mit entwaffnendem Lachen, sprudelnd vor Humor, öffnete die Tür und beide waren nach der Anstrengung von euphorischer Gelöstheit. Frau Müller, immer sanft und leise, brachte dann Riesenplatten mit Broten belegt mit unterfränkischen Wurstwaren, dazu kühlen Frankenwein. … Es ging ungeheuer fröhlich zu, weil Dr. Müller immer neuen Gesprächsstoff lieferte, immer lustig war und zuweilen die Grenzen des so strengen Anstands seiner guten Frau sprengte. Sie sagte dann immer die gleichen Worte: `Ach Valentin!`

1933 zog Familie Müller nach Eichstätt, weil es wohl Schwierigkeiten mit den örtlichen Nationalsozialisten gegeben hatte. Tochter Irmgard berichtet davon, dass ihr Haus einmal nachts bereits von einem Trupp Nazis umstellt gewesen wäre, die den Vater bei seiner Rückkehr überraschen wollten. Nur einer Warnung von Freunden sei es zu verdanken gewesen, dass er mit dem Leben davon kam. Hier sind Ausschnitte aus Filmen der 30er Jahren zu sehen, ohne Ton natürlich: Valentin Müller, etwa 40 Jahre alt, mit seiner Familie und Freunden. Die Bildersprechen von einer stets zu einem Spaß aufgelegten Persönlichkeit. Valentin Müller war niemals Parteimitglied und der einzige Arzt, der in dieser Zeitkranke jüdische Patienten noch zu Hause besuchte. Er eröffnete in Eichstätt eine größere Praxis für die ganze Region. Von frühmorgens bis spätabends arbeitete er. Sogar sonntags nach der Messe konnten ihn die Leute aufsuchen.

Folgende Episode soll Dr. Valentin Müllers Charakter veranschaulichen. Er war ein sehr fordernder, exakter, aber auch humorvoller und großzügiger Mensch. In dieser Zeit war er einer der wenigen, die bereits ein Auto hatten, mit dem er die Kranken in den umliegenden Dörfer aufsuchte. Eines Tages hielt ihn ein Mann auf der Landstraße an und meinte: „Doktor, ich habe Zahnweh!“ Noch immer im Wagen und mitten auf der Straße bat ihn Doktor Müller, seinen Mund zu öffnen. Was er sah, war ein völlig schwarzer Zahn. „Ich muss ihn ziehen!“, sagte er, nahm seine Zange und war drauf und dran, den Zahn zu ziehen. Genau in dem Augenblick biss der Mann zu und dem Doktor in den Finger. „Du Depp, kannst Du Deinen Mund nicht offen lassen?“ Aber auch der zweite und dritte Versuch misslang. Der Mann biss im letzten Augenblick immer zu. Erst nach einer plötzlichen „ärztlichen Ohrfeige“ gelang die „Operation“. „Warum hast Duden Mund nicht gleich offen gelassen?“, fragte der Arzt. Da meinte der Bauerschlagfertig: „Warum hast mir net gleich eine g´schmiert?“

Im Jahr 1937—Valentin Müller war 46 Jahre alt—kauften sie ein Haus von einer jüdischen Familie. Die Barzahlung ermöglichte dieser die Flucht zu ergreifen. Seit dem gibt es dort die Arztpraxis. Bis zu seinem Tod 2005 lebte Valentins Sohn Robert mit seiner Familie in diesem Haus. (Heute lebt meine Mutter dort.) Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Valentin Müller wieder einberufen und zum Oberst ernannt. Er war in den Feldzügen gegen Polen, Frankreich und Russland beteiligt. Aus dieser Zeit tauchten erst kürzlich Briefe auf. Valentin Müller schrieb beinahe jeden zweiten Tag seiner Frau einen Brief. Unter anderem berichtet er, dass er auch zu den gegnerischen Zivilisten gerufen wurde, um sie als Arzt zu versorgen. Indem Brief vom 2. Juni 1940 wird seine Haltung den Menschen gegenüber, ob Freund oder Feind, sehr deutlich: „Es ist immer, wenn ich ein Haus betrete, in den Gesichtern die Angst und die Abneigung zu lesen. Spreche ich dann einige Worte mit warmer Stimme, streiche dem Kranken mit der Hand durchs Haar und nehme dann seine Handfest, so werden sie ruhig und langsam sieht man das Vertrauen in den Augen wachsen, die Not, der Schmerz, die Krankheit kommt zum Vorschein, auf einmal sind sie leidender Mensch, nicht mehr Feind. Sie sind dann von einer rührenden Hingabe, haben großes Vertrauen, und glauben alle, dass sie wieder gesund werden, wenn ich länger dableibe. Gestern wollte mir eine Frau 3 Eier schenken, eine andere Speck, eine dritte wollte bezahlen. Und wenn ich dann ablehne, so weinen sie, fassen nach der Hand, wollen sie küssen und danken, danken. Genug davon.“In einem anderen Brief schrieb er: „Heute habe ich ein Mädel, 4 Jahre alt, das sich schwer verletzt hatte, versorgt; anfangs schrie und jammerte es, aber binnen kurzer Zeit, war sie meine Freundin und scherzte und lachte mit mir.“ „Inzwischen sind wir schon wieder woanders, aber ich versuche jeden zweiten Tag zurückzukommen an meinen früheren Platz, wo ich ein Mädel mit 10 Jahren mit einer schweren Lungenentzündung zurückließ und eine schwer verletzte Frau. Du glaubst nicht, wie die ganzen Familien weinten, als ich fortzog. Als ich das erste Mal zurückkam, waren Freudentränen das erste. Gott sei Dank geht´s beiden besser.“ Es war natürlich gefährlich für ihn, in dieser Weise zu helfen, wie wir in einem weiteren Brief lesen können: „Dadurch, dass ich einem kranken Zivilisten etwas Gutes tun wollte, habe ich jetzt derartige Scherereien. Aber ich bin im festen Vertrauen, dass sich wie jede, auch diese gute Tat lohnt. Ich habe es so gut gemeint … hat mich schon manche schlaflose Nacht beinahe gekostet, zumal ich mich mit niemandem aussprechen kann.“Er deutet an, dass er innerhalb der Wehrmacht unter Beobachtung stand, ja wegen seiner religiösen Haltung bedroht wurde. Er schrieb am 14. Februar 1941: „Ja, das Vater Unser! Wie notwendig braucht man das immer … Ich auf jeden Fall brauche unseren Herrgott allezeit recht notwendig. Erst dieser Tage habe ich einen Lästerer bei Tisch über den Mund gefahren. Es hat mich nicht einer unterstützt, aber es war dann doch Schluß damit. Ich fürchte mich auch alleine nicht. … ich lasse mir das, was mir heilig ist, nicht in den Kot ziehen.“ Er soll es nicht geduldet haben, dass in seinem Beisein ein Soldat fluchte. Ich denke, dass diese Ausschnitte Bände davon sprechen, was diesen Mann prägte und auszeichnete. 1942 wurde er angewiesen, das erste Lazarett in Stalingrad aufzubauen. Nur wenige Tage, bevor die Rote Armee die Stadt einschloss, wurde er aber nach Lourdes abberufen, um dort eine Abteilung für den Transport von Verletzten aufzubauen. Als Chef dieser Abteilung kam er 1943 in Italien an. Hier erfuhr er vom Vorhaben des Generals, in Assisi ein Lazarett zu errichten. Er interessierte sich dafür, diese Aktion zu leiten. Es ist seiner Initiative und Durchsetzungsfähigkeit zu verdanken, dass diese Pläne schließlich im Februar 1944 verwirklicht wurden. Später wurde er zum Stadtkommandanten Assisis erklärt. Nur wenige Monate darauf wurde er von der US Armee in Kriegsgefangenschaft genommen.